Schlangestehen ist eine Kunst für sich, besonders in England. Denn auf der Insel hat man zu diesem Thema ganz eigene Vorstellungen und darüber hinaus konkrete Regeln. Sie fragen sich nach dem Grund? Sie denken, dass es sich um eine banale Angelegenheit handelt? Weit gefehlt! Für Engländerinnen und Engländer gehört zum richtigen Einreihen in eine Warteschlange ein gehöriges Maß an Ernsthaftigkeit und Disziplin. Fast drängt sich der Gedanke auf, es erfordere zunächst den Abschluss eines Lehrgangs, um alle Vorgaben zu Abstand, Blickkontakt und ungewollten Berührungen zu verinnerlichen. Ganz so kompliziert ist es dann doch nicht und wir können in der Ellenbogengesellschaft, die sich hierzulande großer Beliebtheit erfreut, eine ganze Menge von den Gepflogenheiten der englischen Bevölkerung lernen.
Kleiner Fun Fact: Es soll tatsächlich eine Studie geben, der zufolge Engländerinnen und Engländer etwa ein Jahr ihres Lebens in Schlangen anstehen.
Aber wie kommt es denn nun, dass die „Great British Queue“ einen solchen Stellenwert hat?
Darüber gibt es lediglich Spekulationen. Man vermutet den Ursprung im frühen 19. Jahrhundert, als die industrielle Revolution zu einem großen Wachstum der Städte führte. Im Zweiten Weltkrieg erreichte die Bedeutung des Schlangestehens dann ein neues Level. Lebensmittel wurden rationiert, es herrschte Güterknappheit. Und obwohl natürlich jede und jeder etwas abbekommen wollte, wurde Fairness zu dieser Zeit in England ganz großgeschrieben. Man bildete geordnete Schlangen. Alte und schwache oder gar kranke Menschen sollten die gleichen Chancen haben wie junge und kräftige. Diese Form des kooperativen Gruppenverhaltens ist bis heute fest in den Köpfen der Briten verankert, was sich beispielsweise im September 2022 deutlich zeigte, als rund 250.000 Menschen teilweise länger als 24 Stunden anstanden, um Königin Elizabeth II die letzte Ehre zu erweisen – ohne Geschubse und Gedränge.
Die Intimsphäre will gewahrt werden
Beim richtigen Schlangestehen ist der Abstand ein zentraler Aspekt, den es unbedingt zu beachten gilt. Wie bei so vielen Themenbereichen des täglichen Lebens ist auch hier die goldene Mitte der Weg zum Ziel. Denn rückt man dem Vordermann oder der Vorderfrau zu dicht auf die Pelle, wird man mit ziemlicher Sicherheit einen kritischen Blick ernten. Die Menschen in England fühlen sich sehr schnell in ihrer Intimsphäre gestört. Diskretion hat einen hohen Stellenwert. Es ist allerdings auch nicht ratsam, eine zu große Lücke zu lassen, weil dann der Eindruck entstehen könnte, dass man gar nicht ansteht. Vermutlich wird jemand höflich fragen, ob man Teil der Schlange ist. Gleichzeitig hat man sich allerdings mit dem großen Abstand bereits als „Nicht-Engländer“ oder „Nicht-Engländerin“ geoutet. „Are you in the queue?“, bedeutet wörtlich übersetzt nichts anderes als: „Wissen Sie nicht einmal wie man sich richtig anstellt? Sie sind wohl nicht von hier!“
Kommt man an eine Haltestelle, an der noch niemand wartet, nimmt man die sogenannte Schlangenkopf-Position ein, die Einheimische sofort als solche erkennen werden. Touristinnen und Touristen werden gerne mit den Worten „This is a queue!“ darauf hingewiesen.
Kontaktbörse – Fehlanzeige!
Es dürfte kaum einen Ort geben, der sich weniger dazu eignet, um mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, als eine Warteschlange in England. Man schaut sich nicht einmal an. Noch weniger spricht man miteinander. Sollte man versehentlich jemanden streifen, hat man sich umgehend dafür zu entschuldigen.
Unnötige Tradition oder ein Zeichen der Gleichberechtigung?
Niemand wartet gerne. Und vielerorts kauft man sich bereits frei, beispielsweise in Freizeitsparks, die häufig Tickets anbieten, mit denen Besuchende Warteschlangen umgehen können. Auch von Flughäfen kennen wir diese Option, die sich allerdings nur Menschen mit dem nötigen Kleingeld erlauben können.
Dennoch scheint es in England noch so zu sein, dass die Menschen gerne an ihrer Regel festhalten, die Dinge fair zu handeln und für Solidarität und Gleichberechtigung zu stehen. Wird in Deutschland eine neue Kasse in einem Supermarkt geöffnet, stürzen alle gleichzeitig darauf zu und schubsen sich unter Umständen sogar zur Seite. Für die Briten ein absolutes Unding! In England reiht man sich ordentlich ein. Vordrängeln ist ein Tabu!
Stellt sich also die Frage: Schadet es uns wirklich, ein wenig Tempo aus der Hektik des Tages zu nehmen? In unserer schnelllebigen Zeit, in der jedes noch so kleine Bedürfnis sofort befriedigt werden will, in der jede und jeder sich häufig nur selbst im Blick hat und nicht auf andere achtet, tut es doch vielleicht ganz gut, wenn man gezwungen wird, einfach nur zu warten.
Lassen Sie es uns in Zukunft doch ein bisschen wie die Briten machen und deren Fair-Play im Wartebereich auch auf unsere Kultur des Wartens überschwappen. Anstehen, ohne zu schimpfen und zu drängeln, die Intimsphäre der anderen wahren, Rücksicht aufeinander nehmen, darauf achten, dass sich niemand vordrängelt und vielleicht auch einfach mal jemandem den Platz freihalten, der zur Toilette muss, anstatt sofort aufzuschließen und zu rufen: „Weggegangen, Platz vergangen!“.
Auch eine gute Idee: In England gilt auf Rolltreppen das ungeschriebene Gesetz, dass man ganz rechts steht und dort eine Schlange bildet. Menschen, die es besonders eilig haben, können links vorbeilaufen. Besser geht es doch eigentlich gar nicht, oder?
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