Dass die Briten gerne eigene Wege gehen, überrascht niemand. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass der Herbst auf der Insel einen ganz eigenen Takt anschlägt. Zwar spricht man dieselbe Sprache wie jenseits des Atlantiks – allerdings in anderem Dialekt –, doch Thanksgiving am 29. November verläuft deutlich anders: kein Feiertagsmarathon, kein Truthahn in Übergröße, keine Parade, die durch London zieht. Stattdessen: Nebel über den Feldern und der Themse, der Duft von Holzrauch, eine Tasse Tee, die langsam die Finger wärmt. Und irgendwo zwischen Bonfire Night und Harvest Festival liegt etwas, das dem amerikanischen Thanksgiving doch erstaunlich nahekommt – nur eben auf die feine englische Art.
Harvest Festival: Hier riecht die Dankbarkeit nach Brot
Im ganzen Land feiern Dörfer und Kirchengemeinden jedes Jahr ihr Harvest Festival: eine Tradition, die tiefer verwurzelt ist, als viele ahnen. Während draußen die Felder leer sind, stapeln sich in den Kirchen Brotlaibe, Kürbisse, Äpfel und Maiskolben. Auf den Altären stehen Kerzen, die an den Rhythmus des Lebens erinnern sollen: säen, ernten, teilen. Die Hymnen klingen altmodisch, aber ihre Botschaft ist zeitlos. Es geht um das, was in einer Gesellschaft oft zu kurz kommt: Demut. Viele Gemeinden spenden die gesammelten Lebensmittel an Tafeln oder Obdachlosenorganisationen. Kein Spektakel, keine PR, kein Hashtag, sondern echte Dankbarkeit. Wenn in der Kirche der Geruch von frisch gebackenem Brot die Luft erfüllt, spürt man, was die Briten unter „giving thanks“ verstehen: weniger reden, mehr machen.
Wer zu Hause feiern möchte, kann das mit einer klassischen Kürbissuppe oder einem herbstlichen Pie tun, am besten mit Lauch, Stilton und Kartoffeln. Dazu passt ein Glas Apfelwein aus Somerset oder ein kräftiger Cider aus Cornwall.
Bonfire Night gegen Nebel und Schlecht-Wetter-Laune
Am 5. November beginnt das Land sprichwörtlich zu glühen. Bonfire Night, der Tag, an dem Großbritannien an Guy Fawkes erinnert, ist längst mehr als ein historisches Relikt. Überall lodern Feuer, Kinder halten Wunderkerzen, und der Himmel explodiert in einem bunten Farbenmeer aus hunderten Feuerwerkskörpern. Auf den Feldern riecht es nach Rauch und Zuckerwatte, nach Kindheit und Geschichte zugleich. Es ist kein offizieller Akt der Dankbarkeit, doch genau das wird daraus: ein Fest, das Gemeinschaft schafft. Man steht beieinander, während die Kälte an den klammen Fingern nagt, und teilt heiße Schokolade, Gelächter, Geschichten. Typisch britisch wird an diesem Abend Parkin serviert, ein dunkler, klebriger Lebkuchen aus Hafer und Sirup, der an den Lagerfeuern besonders gut schmeckt. Dazu passt ein Becher Mulled Cider – gewürzt mit Zimt, Nelken und einem Spritzer Orangenlikör. Wer den Abend authentisch feiern will, packt Decken, Thermoskannen und ein paar Würstchen zum Rösten ein. Dann lässt man sich vom Feuer wärmen, das seit Jahrhunderten Teil der britischen Novemberseele ist.
Alle Jahre wieder: Friendsgiving
In London, Manchester und Edinburgh entsteht gerade eine neue Form des Dankens: Friendsgiving. Eine Idee, die aus den USA nach Großbritannien kam und dort längst ihren eigenen englischen Ton gefunden hat. Junge Menschen laden Freunde zum Essen ein, improvisieren mit Pasteten und Cranberry-Sauce, manchmal auch einfach mit Mac & Cheese. Es geht nicht um Tradition, sondern um Freundschaft. Gerade in einer Zeit, in der viele fern der Familie leben, wird dieses Ritual zu einem Anker. Ein Abend, an dem die Telefone beiseitegelegt werden, Kerzen brennen und jemand sagt: „Ich bin froh, dass es dich gibt.“
Gratitude mal anders
Vielleicht ist das die Essenz britischer Dankbarkeit: man trägt sie nicht zur Show, sondern im Herzen. Man hängt nicht an die große Glocke, wie viel man wo gespendet hat, sondern sitzt zusammen am Kamin, nippt am Cider und weiß, dass Geben glücklich(er) macht. Während in den USA Millionen durch Flughäfen hasten, ist der britische November eine Einladung zur Entschleunigung und Langsamkeit. In den Kirchen werden „Services of Remembrance and Thanks“ – Gedenk- und Dankgottesdienste – gefeiert, auf dem Land veranstalten Gemeinden Suppenabende, in den Städten stehen Menschen vor den Pubs und „having a yarn“ - einen gemütlichen Plausch.
In einem Land, das lieber Tee trinkt als große Reden zu schwingen, ist genau das vielleicht die ehrlichste Form von Dankbarkeit.


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